Ein Gespenst schwebt drohend am Horizont: Mit der Aktienrechtsreform werden in börsenkotierten Schweizer Unternehmen Geschlechter­richtwerte für Geschäftsleitungen (mindestens 80/20) und Verwaltungsräte (mindestens 70/30) eingeführt. Das Gespenst wird unter anderem «Quotenfrau» genannt. Die Verantwortlichen fürchten bereits den Erklärungsnotstand bei Nichterreichen der Quoten. Und die Angst geht um, die Führungsetagen der Schweizer Top-Firmen würden nun von unterqualifizierten, übergeförderten Frauen geflutet, die das Schweizer Erfolgsmodell gefährden. Und «Quotenfrauen» sind ja per Definition minderwertige Wesen. Darum soll lieber alles beim Alten bleiben, bis sich die Frauen in ausreichender Zahl tatsächlich von selbst qualifiziert haben. So oder ähnlich klingt der Plot der Systembewahrer.
Diese Haltung bringt uns jedoch nicht weiter. Denn eigentlich wollen alle Unternehmen mehr Frauen in der Führung, und die Wirtschaft braucht sie auf allen Ebenen zum Erhalt des Wohlstandes. Bloss die Frage des «WIE UMSETZEN?» scheint schwer zu beantworten. Und mit den Jahren ist das Thema kompliziert und aufwändig geworden. Lassen Sie uns deshalb nach echten Lösungen suchen – was eigentlich ganz leicht geht. Hier ein Vorschlag.

DIE FAKTEN: FRAUENMANGEL?

Zuerst die Fakten: In der Schweiz treten in den nächsten 15 Jahren eine Million Arbeitskräfte aus dem Erwerbsleben aus und es rückt nur eine halbe Million Inländer nach1. Das ist der demografische Wandel. Die Digitalisierung wird wohl nur einen Teil der entstehenden Lücke schliessen. Auch die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte hilft bei der Linderung des Problems, ist aber politisch umstritten. Das grösste ungenutzte Inländerpotenzial sind alsdann die Frauen2, die etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Ihr Anteil an Universitäts­abschlüssen steigt seit Jahrzehnten und bereits seit einigen Jahren schliessen mehr Frauen als Männer eine tertiäre Bildung ab3. Das Leistungsniveau von Frauen ist in der Regel auf allen Bildungsstufen besser als das der Männer. Und so schaffen es die meisten grossen Unternehmen seit rund 10 Jahren mit ausgewogenem Geschlechterverhältnis zu rekrutieren4. Der «Geschlechter-Knick» zeigt sich ab der ersten Beförderungsebene. Danach nimmt der Frauenanteil zusehends ab4. In grossen Firmen stärker als in kleinen5. Frauen, die es trotzdem nach oben schaffen, sind im Schnitt 20% höher qualifiziert als ihre Kollegen6. Und ganz generell schneiden Frauen bei der Führungseignung etwas besser ab als Männer7. Also glauben Sie bitte die Mär von der mangelnden Qualifikation nicht. Es muss an etwas anderem liegen.
Eine beliebte und verbreitete Erklärung des Frauenmangels auf den Teppichetagen ist, dass Frauen die Verantwortung scheuen, nicht führen wollen und sich um Mitte Dreissig lieber auf die Familiengründung mit Teilzeit-Erwerbstätigkeit fokussieren. Wie bei jedem Märchen ist da natürlich ein Fünkchen Wahrheit dran, aber auch nicht mehr als das. Dem gegenüber stehen 15% Frauen, die wegen ihrer Schwangerschaft den Job verlieren, den sie gerne behalten hätten8. Das ist belegt. So auch, dass wohl 20% aller Mütter Vollzeit arbeiten, jedoch über 50% aller Frauen ohne schulpflichtige Kinder mit einem Pensum von unter 50% erwerbstätig sind9. Die Gretchenfrage lautet also vielmehr: Wie schaffen wir es in der Schweiz, die unzähligen in Miniteilzeit erwerbstätigen Frauen für mehr Engagement in der Wirtschaft zu begeistern?
Die Beantwortung dieser Frage macht Personalthemen zum Verwaltungsrats­traktandum und eben zur politischen Agenda. Im Folgenden möchte ich daher mit verschiedenen gängigen Lösungsansätzen aufräumen und diesen wissenschaftlich erforschte Alternativen gegenüberstellen. Manche davon mögen auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, weil ungewohnt. Aber vielleicht lassen Sie die Ideen einfach einmal etwas länger auf sich wirken.

STOPPT DIE FRAUENFÖRDERUNG – IM ERNST!

Die üblichen Zauberformeln lauten seit Jahren: Frauenförder- und Verhaltens­optimierungs­programme, Firmen­krippenplätze, Teilzeit und Co. Doch kaum einer traut sich, es öffentlich zuzugeben: diese Programme erzielen längst nicht den angestrebten Erfolg. Der erste Mythos ist die «Frauenförderung». Bitte hören Sie einfach auf damit. Sie brauchen weder eine Diversity & Inclusion-Fachstelle, noch irgendwelche geschlechterbezogenen Sonderbehandlungen bei Entwicklungsprogrammen, Beförderungen oder Netzwerken. Aller «Frauenförderung» liegt nämlich die Haltung zu Grunde, Frauen müssten speziell gefördert werden, um gleichwertig zu werden. Dies ist eine abschätzige, unproduktive Ausgangslage, welche das Problem zementiert statt löst. Es liegt gar nicht an den Frauen. Delegieren Sie deshalb das Thema Durchmischung nicht an eine Frau im mittleren Kader, denn dort bleibt es wirkungslos. Spezielle Frauenprogramme in der Talentförderung verstärken lediglich die Segregation und nähren die Wahrnehmung, dass mit den Frauen etwas abnormal und minderwertig sei.
Beginnen Sie stattdessen damit, Ihre Personalentscheidungen auf Systemfehler im Unternehmen zu durchleuchten, welche dazu führen, dass Ihre Führungskräfte unverhältnismässig mehr Männer befördern als Frauen10. Wie passiert das? Welche Stereotypen, blinde Flecken und einseitigen Qualifikations­modelle sind da am Werk und wie umgehen Sie diese Fallen? Machen Sie alle ihre Geschäftsleitungs­mitglieder für die laufende Umsetzung von Diversity & Inclusion persönlich und nicht delegierbar verantwortlich. Gestalten Sie griffige Sanktionen für den Fall, dass die Personalstrategie «100% vom Talentepool nutzen» in einem Bereich nicht umgesetzt wird. So unbeliebt sie sind, Geschlechter­richtwerte helfen dabei und bringen Erfolg. Seit die britische BBC 50/50-Vorgaben bei Personal und redaktionellen Inhalten eingeführt hat, verkauft sich das Medium bedeutend besser11.

ANTI-BIAS TRAINING FUNKTIONIERT NICHT

Stoppen Sie «anti-bias Trainings», denn sie sind unwirksam12. Der Mensch glaubt in der Regel, er habe gar keine Wahrnehmungsverzerrungen und sei fair in seinen Beurteilungen. Es geht gegen seine Natur, sich «unconscious biases» in einem Gruppentraining öffentlich einreden und dann wieder abgewöhnen zu lassen. Das funktioniert nicht. Verhaltensänderungen erzielt man durch geschickt angepasste Entscheidungs­architekturen, die ganz von selbst und völlig freiwillig qualifiziertere Ergebnisse und mehr Fairness hervorbringen. Ein konkretes Beispiel: Entfernen Sie aus Bewerbungsunterlagen vor der ersten Selektion alle Störinformationen, die keine Aussage über die Qualifikation der Person machen: Vorname, Nachname, Geschlecht, Zivilstand, Anzahl Kinder, Nationalität, Wohnort, Alter, Fotos. Die Diversität der Kandidaturen in der engeren Auswahl wird damit ganz von selbst steigen. Seit amerikanische Top-Orchester Musiker hinter einem Vorhang und ohne Schuhe vorspielen lassen, ist deren Frauenanteil von 5% auf 40% gestiegen13. Und alle sind überzeugt, die Richtigen und Qualifiziertesten gewählt zu haben – vorher wie nachher.

WEG MIT DEN FIRMENKRIPPEN

Stellen Sie bloss keine Firmen-Krippenplätze zur Verfügung. Vor allem nicht, um mehr Frauen zu gewinnen. Das ist ein Bumerang. Vereinbarkeit betrifft beide Geschlechter. Ein Krippenplatz am Arbeitsort der Mutter fesselt diese allein an die Aufgabe des Kümmerers und verhindert so, dass sie reisen und Überstunden machen kann. Kinder sollen am Wohnort der Eltern ihre Tagesstrukturen haben, damit sich beide Eltern gleichermassen um die Familienlogistik kümmern können und müssen14. Und damit sowohl Eltern wie Kinder tragfähige soziale Familiennetze bilden können. Setzen Sie sich daher anstatt für Firmenkrippen politisch für flächendeckende Tagesstrukturen für Kinder von 0-15 Jahren ein.

VERGESSEN SIE TEILZEIT

Schaffen Sie Teilzeitmodelle ab, denn nur wer Vollzeit arbeitet wird für voll genommen. Bereits eine Reduktion auf 90% stellt eine erhebliche Karrierebremse für Mann wie Frau dar15. Schaffen Sie diese Benachteiligung ab. Ändern Sie stattdessen den Referenzrahmen, was in Ihrer Firma als «normal» gilt. Das ist etwas für ganz Mutige: Führen Sie die 32-Stunden-Woche ein. Passen Sie den Headcount, die Löhne und die Aufgabenverteilung an die neuen Kapazitäten an – auch die Schichtpläne, falls ihr Betrieb dies erfordert. Abweichungen bedürfen der Genehmigung und werden jeweils als Zuschlag oder Abzug auf der Lohnabrechnung aufgeführt. Die Produktivität pro Lohnfranken wird erheblich steigen und mit ihr die Mitarbeiterzufriedenheit, Arbeitgeberattraktivität und vieles anderes mehr16.

PERSÖNLICHE QUALIFIKATIONEN ABSCHAFFEN

Schaffen Sie persönliche Qualifikationsgespräche am Jahresende ab. Und gleich auch alle anderen Gelegenheiten, in denen Führungskräfte ihre subjektiven Stereotypen gegenüber Mitarbeitenden zur Wirkung bringen können. Zum Beispiel unstrukturierte Bewerbungsgespräche. Psychometrische Instrumente und allgemeine Intelligenztests sagen mit erheblich grösserer Präzision voraus, wer sich für welche Stelle und Beförderung eignet, als das Bauchgefühl eines durchschnittlich erfahrenen HR-Managers – geschweige denn einer Linienführungskraft. Es ist schwer verdaulich, aber gut erforscht: Menschen sind relativ ungeschickt darin, die Qualitäten und das Potenzial anderer Menschen richtig einzuschätzen. Ausser diese sind ihnen selbst sehr ähnlich. Und genau da entsteht das Problem mit der Vielfalt10.
Hinterfragen Sie, wie Beförderungen und Führungskräfte­entwicklung in Ihrem Unternehmen funktionieren. Wie wird «Talent» gemessen? Woran wird «Potenzial» erkannt? Haben Sie eine inkludierende Kultur, in der Verschiedenheit gepflegt, geschätzt und genutzt wird? Oder haben Sie eine einseitige Kultur, die Selbstähnlichkeit fördert? Wie ausgeprägt sind Abschottungsverhalten zwischen Silos, die informelle Hackordnung? Wenn Sie mehrere Frauen kennen, die in Ihrer Firma Beförderungen ablehnen oder Führungspositionen schnell wieder verlassen, dann liegt das sehr wahrscheinlich an einer unwirtlichen Firmenkultur. Geben sie den soft Skills bei Beförderungen mehr Aufmerksamkeit. Führen sie ein Kulturbarometer ein. Führungskräfte prägen die Firmenkultur und die Firmenkultur prägt, welche Mitarbeitende und Führungskräfte weiterkommen.

POLITISCHE HÜRDEN WEGRÄUMEN

Nicht alle «Ressourcenprobleme» lassen sich auf Unternehmens­ebene lösen. Es gibt auch politischen Handlungsspielraum, um für Ihre Firma optimale Marktbedingungen zu schaffen17. Hierzu einige Beispiele. Die bereits angesprochenen bezahlbaren Tagesstrukturen verhindern, dass Frauen schon während der Familienzeit in die Erfahrungslücke und Miniteilzeitfalle mit all ihren Spätfolgen stolpern. Dabei ist ein organisiertes Mittagessen für Schüler im Pflegeheim keine Tagesstruktur, sondern ein erfolgversprechender Trick möglichst schnell zu beweisen, dass kein Bedarf besteht. Tagesstrukturen beinhalten vielmehr Lernen, Ernährung, Inspiration, Freizeitaktivitäten, soziale Interaktionen, Hausaufgaben, Erziehung, wohlwollende Aufsicht, Raum, Bewegung, Rückzugsmöglichkeiten, emotionale Zuwendung. Auch in den Schulferien. In die gleiche Richtung wirkt die Forderung nach einer Elternzeit anstelle des heutigen Mutterschaftsurlaubs.
Unser Steuersystem basiert noch heute auf dem Alleinernährermodell aus der Mitte des letzten Jahrhunderts. Bei einer Frauenerwerbsquote von aktuell rekordhohen 87% ist dieses Referenzmodell längst überholt, hinderlich sogar. Es zwingt Frauen praktisch in die Miniteilzeit – auch darin sind wir in der Schweiz führend1. Ein Wechsel zu einer progressiven Individualbesteuerung unabhängig vom Zivilstand würde nicht nur das Problem der Heiratsstrafe18 bereinigen. Er wirkt durch Begünstigung von zwei mittleren Einkommen von Paaren ohne schulpflichtige Kinder auch als Anreiz, Miniteilzeitpensen aufzustocken.

HELFEN SIE, SYSTEMFEHLER ABZUBAUEN

Falls Sie wirklich überzeugt davon sind, dass Frauen und Männer gleichwertige und gleichberechtigte Menschen sind, dann helfen Sie mit, weiter Schritt für Schritt Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern zu eliminieren. Natürlich auch jene, von denen die Frauen profitieren. Privat mögen Sie ja andere Präferenzen haben, aber als unternehmerisch denkender Mensch sollten Sie an optimalen Marktbedingungen und an strategischen Vorteilen bei der Rekrutierung in einer Welt des Fachkräfte­mangels interessiert sein. Ein erster Schritt, um bessere Voraussetzungen für Ihre Firma als attraktiver Arbeitgeber zu schaffen, ist eine Haltungsänderung in den Köpfen und Herzen der Unternehmensleitung. Hören Sie auf, Frauen zu fördern. Beginnen Sie stattdessen, Ungleichheiten und Systemfehler abzubauen und Ihre Führungskräfte persönlich in die Verantwortung zu nehmen. Engagieren Sie sich auch politisch für die notwendigen systemischen Veränderungen. Damit auch Ihre Unternehmung 100% des vorhandenen Talentepools nutzen lernt.

Details zu den Fakten / weiterführenden Quellen

1 2017. Schweizerischer Arbeitgeberverband (Hrsg.), Brennpunkt Arbeitsmarkt.

2 2019. Bundesamt für Statistik, Medienmitteilung vom 23.07.2019 zu Arbeit und Erwerb, aufgerufen am 22.08.2019.

3 2019. Bundesamt für Statistik, Studierende an den universitären Hochschulen nach Jahr, Fachbereich, Studienstufe, Geschlecht und Hochschule, aufgerufen am 22.08.2019.

4 2018. ADVANCE & HSG, Gender Intelligence Report 2018, aufgerufen am 22.08.2019.

5 2019. Ernst & Young, Unternehmensbarometer 2019, Frauen in Führungspositionen, aufgerufen am 22.08.2019.

6 2019. Tomas Chamurro Premuzic, Why so many incompetent men become leaders?, Harvard Business Review Press, Boston. Bezug bei Schulthess

7 2019. Zenger Jack/Folkmann Joseph, Women score higher than men in most leadership skills, Harvard Business Review, Juni 2019, aufgerufen am 22.08.2019.

8 2019. Gnehm Claudia, Schweizer Firmen entlassen junge Mütter, Handelszeitung vom 13.02.2019, aufgerufen am 22.08.2019

9 2019. Bundesamt für Statistik, Mütter auf dem Arbeitsmarkt, aufgerufen am 22.08.2019

10 2017. Tomas Chamurro Premuzic, The Talent Delusion, London. Bezug bei Schulthess

11 2019. Laeri Patrizia, Das Frauenproblem der Medien, Blick vom 28.05.2019, aufgerufen am 22.08.2019.

12 2019. FehrAdvice & Partners, Was Online-Diversity-Training bringt – und was nicht, Blogbeitrag, aufgerufen am 22.08.2019.

13 2016. Bohnet Iris, What works – gender equality by design, Harvard University Press, Cambridge. Bezug bei Schulthess

14 2018. Jacobs Foundation, Whitepaper zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Zwischen Wunsch und Realität, aufgerufen am 22.08.2019.

15 2017. Michael Gasser, Kaufmännischer Verband Schweiz, Teilzeit gefährdet die Karriere, aufgerufen am 22.08.2019.

16 2019. Brunner Raphael, Warum sich weniger arbeiten für alle auszahlt, Beobachter vom 03.04.2019, aufgerufen am 22.08.2019.

17 2013. OECD, Economic Surveys Switzerland, Nov. 2013, aufgerufen am 22.08.2019.

18 2019. Müller-Möhl-Foundation, Ecoplan Studie: Auswirkungen einer Individualbesteuerung, aufgerufen am 22.08.2019

Blogartikel von Esther-Mirjam de Boer, CEO von GetDiversity auf vr-wissen.ch vom 16. August 2019.