Wir bilden unsere Meinung und stimmen ab. Die Ergebnisse sind oft das Resultat von Konflikten rund um Details, die mit der Lupe vergrössert werden und das Zusammenhängende überblenden. Kein grosser Wurf kommt auf diese Weise zustande, alles wird peinlich kleinlich zerredet. Manchmal überlege ich mir als Gedankenspiel: Wie würden wir entscheiden, wenn wir kein Gedächtnis hätten? Welche Schweiz würden wir gestalten, wenn es nichts zu bewahren gäbe, weil wir nicht wüssten, welche Vergangenheit zum Status quo geführt hat? Wenn wir nur die Zukunft vor uns hätten?
Nehmen wir den gesellschaftlichen Sozialvertrag: Würden wir tatsächlich Menschen 25 Jahre lang ausbilden, 40 Jahre lang erwerbstätig sein und dann 20 Jahre vom kollektiv und individuell Ersparten sowie von den Sozialbeiträgen der Jüngeren das Ende des Lebens geniessen lassen? Würden wir wirklich alle Menschen ausbilden, aber von der Hälfte erwarten, dass sie unbezahlt, hauptsächlich in der Kinderbetreuung und als Reinigungskraft eingesetzt wird? Würden wir auf ihr wirtschaftliches und intellektuelles Potenzial über Jahre verzichten? Würden wir von der anderen Hälfte gleichzeitig erwarten, dass sie ihre sozialen Bindungen und familiären Beziehungen unterdrückt und ihre ganze Kraft auf die Erwerbsarbeit fokussiert?
Wir haben eine grosse Reform der Altersvorsorge vor uns. Und wir verhandeln peinlich kleinlich, ob die Negativzinsen, die die Nationalbank aktuell einnimmt, das Vorsorgesystem finanziell sanieren sollen. Und ob jene Hälfte der Bevölkerung, die mit wenig volkswirtschaftlicher Rentabilität viel Betreuungsarbeiten geleistet hat, ein Jahr länger erwerbstätig sein soll. Glauben wir im Ernst, mit diesen Minireförmchen die Zukunft unseres Landes und die Wohlfahrt im Griff zu haben?
Wäre die Schweiz ein Grossunternehmen, würde ich als Verwaltungsrätin höchst divers zusammengesetzte Arbeitsgruppen einsetzen, die das Geschäftsmodell der Schweiz in Varianten neu erfinden. Wir würden die Ideen in Experimenten austesten und aus den Erfahrungen lernen. Wir würden komplexe sozialökonomische Games programmieren, um das Verhalten und die Präferenzen für die neuen Regeln kennenzulernen und für deren Verfeinerung zu nutzen. Kein Bundesrat müsste und keine Partei könnte mehr sagen, «Das wird vom Volk nicht mitgetragen», denn die Lösung wäre vom Volk entwickelt worden.
Kolumne von Esther-Mirjam de Boer in der Handelszeitung vom 17. Juni 2021.